Mündliche Überlieferung


Mündliche Überlieferung oder Oralität bezeichnet die erzählende Weitergabe und Schaffung von geschichtlichen, gesellschaftlichen und religiösen Informationen – insbesondere in Form von Geschichten, Sagen, Mythen und Traditionen. Sie spielt in allen Kulturkreisen eine große Rolle, insbesondere in jenen, die keine oder erst in Ansätzen eine schriftliche Überlieferung (Schriftlichkeit bzw. Literalität) kennen. Das Fehlen der in einer Kultur verankerten Lese- bzw. Schreibfähigkeit wird als Illiteralität bezeichnet. Mündliche Überlieferungen können ein Kulturgut sein.

Der Satz: „Du weißt, was du im Gedächtnis trägst“ ist ein Schlüsselsatz, um die Methoden des Erinnerns und des Wissens in einer primären oralen Kultur zu beschreiben. Walter J. Ong unterscheidet hier klar die primären oralen Kulturen von der sekundären Oralität, die sich in der heutigen Zeit durch Radio, Fernsehen und Telefon entwickelt hat. Völker, die gänzlich ohne das geschriebene Wort auskommen und deren Erinnerungen und Gedächtnis aus rein oralen Strukturen bestehen, sind solche einer primären Oralität. Schriftliche Kulturen führen das organisierte Wissen fast ausschließlich aus Schriften herbei, während orale Völker nur das wissen, was sie im Gedächtnis tragen. Aber wie konservieren sie dieses Wissen?

Im Stadium totaler Schriftlosigkeit gibt es kaum Möglichkeiten, den gleichen Gedankengang noch einmal zu produzieren oder eine komplizierte Erklärung im selben Wortlaut noch einmal entstehen zu lassen. Der Gesprächspartner ist deshalb sehr wichtig, um Wissen zu teilen und sich sein Wissen auch bewusst zu machen.

Schon Sokrates hat in Platons Dialog Phaidros den Wertverlust der Kommunikation beklagt, der durch die Schriftlichkeit aufgekommen ist.

„Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt[…].“

Um sicherzustellen, dass mündliche Formen der Überlieferung die Zeiten überdauern, hat man verschiedene Methoden verwendet. Oft werden wichtige Erzählungen in Rituale eingebaut, die sich dann wegen ihrer nonverbalen Inhalte den Beteiligten besonders ins Gedächtnis einprägen. Ein bekanntes Beispiel ist die jährliche Verlesung der Weihnachtsgeschichte in vielen Familien und im Gottesdienst – und ihre Verstärkung durch das Nachspielen der Kinder – die sich auch in „Hirtenspielen“ oder in unzähligen Volksliedern dokumentiert.