Volksgemeinschaft bezeichnete in der politischen Ideenwelt des 19. und 20. Jahrhunderts das (völkische) Ideal einer weitgehend konfliktfreien, harmonischen Gesellschaftsordnung, die Klassenschranken und Klassenkampf hinter sich gelassen hatte. Diese wurde als Gemeinschaft beschrieben, im Gegensatz zu dem Begriff der Gesellschaft, der als künstlich und undeutsch abgelehnt wurde. Seit dem Ersten Weltkrieg benutzten fast alle deutschen Parteien diesen Begriff. Besonders wirkungsmächtig war die Formel von der Volksgemeinschaft in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. 1937 definierte Meyers Konversations-Lexikon Volksgemeinschaft als „Zentralbegriff des nationalsozialistischen Denken[s]“.[1]
Erstmals wurde das Wort Volksgemeinschaft wahrscheinlich in Gottlob August Tittels Übersetzung von 1791 eines Textes von John Locke verwendet. Volksgemeinschaft brachte dort die Wortfolge “in any [particular] place, generally” auf den Punkt.[2][3] Zu Wissenschaftlern des neunzehnten Jahrhunderts, die von „Volksgemeinschaft“ sprachen, gehören Friedrich Schleiermacher, Friedrich Carl von Savigny, Carl Theodor Welcker, Johann Caspar Bluntschli, Hermann Schulze, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Wundt und Ferdinand Tönnies.[4]
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden ethnische Zugehörigkeit und Sprache zu Kriterien der Bestimmung einer Nation.[5] Der Nationsbegriff war stärker mit dem Begriff „Staat“ verknüpft, „Volk“ dagegen ließ sich leichter ethnisch verstehen. Der Begriff „Volksgemeinschaft“ ersetzte zunehmend den bis dahin geläufigen der „Volksnation“.[6]
„Volksgemeinschaft“ als Gegenbild zur modernen, von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft war für verschiedene politische Gruppierungen – besonders für konservative, aber auch liberale, nationalbolschewistische und christliche Bewegungen – attraktiv.[7] Durch den von Ferdinand Tönnies herausgestellten Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft gewann der Begriff der Volksgemeinschaft an Popularität. In ihm bilden sich die von Tönnies geprägten Antinomien ab: Einheit gegen Pluralität, Individualismus gegen Verbundenheit der Gemeinschaft, Sonderinteressen gegen Gemeinwohl. Zunächst war der Gemeinschafts-Begriff politisch noch weitgehend deutungsoffen; er konnte „national“, „sozialistisch“, „konservativ“ oder „völkisch“ interpretiert werden. Ein Teil dieser Volksgemeinschaften waren die gegen den Klassenkampf gerichteten Werksgemeinschaften, die ein harmonisches Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern anstrebten.[8] Sie wurden als „Gelbe“ diskreditiert (Gelb als Farbe des Verrats),[9] konnten sich aber dennoch bis in die Weimarer Republik organisieren. Obwohl politisch im Liberalismus gegründet, bildeten sich unter den Werksgemeinschaften auch andere politische Richtungen heraus, wie etwa mit der Deutschen Werkgemeinschaft (DW, ab 1921) Otto Dickels eine völkische Gruppierung mit monopolistischem Anspruch.[10]